Dante Sonnett III - neu übersetzt
A ciascun'alma presa e gentil core
nel cui cospetto ven lo dir presente,
in ciò che mi rescrivan suo parvente,
salute in lor segnor, cioè Amore.
Già eran quasi che atterzate l'ore
del tempo che onne s tella n'è lucente,
quando m'apparve Amor subitamente,
cui essenza membrar mi dà orrore.
Allegro mi sembrava Amor tenendo
meo core in mano, e ne le braccia avea
madonna involta in un drappo dormendo.
Poi la svegliava, e d'esto core ardendo
lei paventosa umilmente pascea:
appresso gir lo ne vedea piangendo.
Für jedes sanfte Herz, bedrückte Seelen,
die meines Hoffens dieser Gruß erreichte,
auf dass ein jeder anschließt sich zu Beichte,
wie Leiden unsres Herren Amor quälen.
Schon war die dritte Stunde fast erreicht,
zur Zeit als Venus Stern hell leuchtend schien,
als aus dem Dunkeln Amor mir erschien,
unter des Antlitz meine Stirn erbleicht.
Er schien mir fröhlich, mein Herz in der Hand
trug er, in seinen Armen eingehüllt
mein Mädchen, das im Schlaf er fand,
dann weckt er sie, und sie, mein Herz in Brand,
bescheiden kostet sie's, von Angst erfüllt,
sich wendend, weinend gar, entschwand er dann.
theresa marx am 24. Januar 12
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Shakespeares "Summer day" - neu übersetzt
Shall I compare thee to a summer's day?
Thou art more lovely and more temperate.
Rough winds do shake the darling buds of May,
And summer's lease hath all too short a date.
Sometime too hot the eye of heaven shines,
And often is his gold complexion dimm'd;
And every fair from fair sometime declines,
By chance or nature's changing course untrimm'd;
But thy eternal summer shall not fade
Nor lose possession of that fair thou ow'st;
Nor shall Death brag thou wander'st in his shade,
When in eternal lines to time thou grow'st:
So long as men can breathe or eyes can see,
So long lives this, and this gives life to thee.
Vergleich ich dich mit einem Sommertag?
Bist du doch lieblicher'n und sanfteren Geblüts
Die Maienblüte unter Stürmen wohl verzag
und Sommer ist oft wankelnden Gemüts.
Manchmal scheint gar des Himmels Aug zu heiß,
und oft sein golden Strahlen grau verdeckt
Und alles Schön verblasst, wie jeder weiß,
Natur und Zufall halten es versteckt.
Deine ew'ger Sommer doch soll nie vergehn
noch deiner Schönheit ewg'er Glanz verblassen
noch sollst du in des Todes Schatten stehn
die ew'gen Zeilen in der Zeit dich lassen.
Solang den Menschen Atmen, Sehen noch gegeben,
solang lebt dies, und dieses schenkt dir Leben.
theresa marx am 24. Januar 12
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Was ist Kontext? Teil II
Wenngleich sich jedes S in L aus K entwickelt hat, scheint S gewisse Eigenschaften zu haben, die es ihr erlauben, sich in einem beliebigen Kt auszudrücken. Kt ist nicht in K impliziert, sondern auf gewisse Weise von den Eigenschaften von S abhängig (und vice versa), die über K hinausreichen. Welches sind diese Eigenschaften?
I.Generalisierung: Im Spracherwerb lernt das Kind, das gleiche Wort auf verschiedene Objekte in der Welt zu beziehen. Diese Fähigkeit verfeinert sich im Laufe der ersten Jahre1 und erreicht schlussendlich eine gewisse Stabilität. Wir sind dann fähig, das selbe Wort entweder auf ein unspezifiziertes Exemplar einer Spezies/Kategorie/Klasse („ich hätte so gerne eine Katze“), auf eine Spezies im Ganzen („ich mag keine Katzen“) oder auf ein bestimmtes Exemplar einer Spezies anzuwenden („meine Katze hat Hunger“). Psychologisch bedeutet dies, dass wir gelernt haben, vom Einzelnen auf das Allgemeine zu abstrahieren.
II.Reflexivität: Sprache kann sich auf Sprache beziehen. „Das erste Wort in diesem Satz hat drei Buchstaben.“ „ 'Das erste Wort in diesem Satz hat vier Buchstaben', ist eine Lüge.“ Der Wahrheitsgehalt tautologischer und kontradiktorischer Aussagen ist feststellbar einzig durch Überprüfung der logischen Struktur der verwendeten S.
III.Übersetzbarkeit: Jede beliebige Aussage p kann von S nach S' übersetzt werden oder durch S' inhaltlich wiedergegeben werden:
„His cat is sleeping.“ - „Seine Katze schläft.“
„Easy come, easy go.“ - „Wie gewonnen, so zerronnen.“
Wenngleich eine Absolutheit der Übersetzung nicht garantiert werden kann, so ist sie doch ein extrem effizientes konventionelles Mittel der Kontextangleichung, ohne welches der Transfer vielen Inhaltes überhaupt nicht zu bewerkstelligen wäre.
IV.Hypothetizität: Nur durch Sprache können wir uns auf Ereignisse beziehen, die nicht stattgefunden haben, oder Aussagen über Objekte treffen, die nicht existieren. Der Kontext ist immer faktisch; auch wenn er verändert und angeglichen werden kann, so ist er doch in jedem Moment für die sich in im befindliche Person eine Tatsache der Welt. Es ist unmöglich, ohne Sprache zu behaupten, dass Einhörner, sofern sie existieren, unsichtbar und rosa sein müssen. Des Weiteren ist jede Art von sinnhafter Verknüpfung (Kausalität, Implikation, Konditionale, etc.) nur auf sprachlicher Basis mitteilbar.
Diese Eigenschaften (ohne Anspruch auf Vollständigkeit), ermöglichen es, eine große Varianz an Kt zu kreieren, in denen die Vermittlung sprachlichen Inhalts bestätigtermaßen erfolgreich verläuft. Man kann mit guten Gründen annehmen, dass durch Sprache ein Maximum an Quantität und Qualität der Vermittlung von Inhalt erreicht werden kann. Es gibt Inhalte, die ohne Sprache nicht zugänglich sind, wie wir gesehen haben, aber keine Inhalte, die vermittelt werden ohne in Sprache ausgedrückt werden zu können. Alle geistigen Inhalte, die überhaupt mitgeteilt werden können (ich verweise hier auf die Qualia-Problematik), lassen sich auch sprachlich formulieren.
Aus dem Bisherigen können wir schlussfolgern: Die Sprache erschließt einen weitaus größeren logischen Raum als die Tatsachen der Welt selbst, die unseren Kontext bilden.
Fußnote 2:
In einem gewissen Alter sind Kinder beispielsweise fähig, die Bezeichnung “Katze” auf alle Katzen anzuwenden, hingegen nicht auf Hunde. Allerdings zählen sie weibliche Löwen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auch zu dieser Kategorie.
theresa marx am 26. Oktober 10
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Was ist Kontext? Teil I
Dass der Kontext einer Äußerung ihren Sinn wesentlich mitbestimmt, wird niemand leugnen. Schließlich hätten (indexikalische) Aussagen wie a) „Ich bin ja so dumm!“ keine Bedeutung ohne einen Sprecher, der diesen Satz sagt. In meinem Falle könnte diese meine Aussage unter gewissen Umständen als wahr akzeptiert werden, sodass jemand, beispielsweise mein Professor, die gleiche Aussage mit anderen Worten formulieren könnte, ohne dass sich dabei ihre Bedeutung ändert:
b) „Theresa Marx ist ja so dumm!“
Beide Aussagen haben den gleichen Inhalt – die Dummheit einer gewissen Person –, aber die erste Aussage ist dabei wesentlich stärker vom Kontext abhängig als die zweite. Es gibt nur eine Person, die Aussage a) äußern kann, ohne ihren Inhalt zu verändern. Wenn mein Professor, meine Supermarktverkäuferin und mein Bruder die Aussage a) treffen, so wäre ihr Inhalt ein anderer (der Prof, die Verkäuferin oder mein Bruder würden sich selbst respektive als dumm bezeichnen); man könnte auch sagen, die Aussagen haben unterschiedliche Wahrheitsbedingungen. Wenn jedoch die erwähnten drei Personen Satz b) äußern, so ändert sich an seinem Inhalt nicht das geringste. Der Inhalt von Aussage a) ist also streng kontextabhängig.
Was aber geschieht mit dem Inhalt von Aussage b)?
Könnten wir behaupten, dieser Inhalt sei unabhängig vom Kontext und allein durch die Bedeutung der Wörter semantisch definiert? Wenn dies so wäre, müsste b) in allen möglichen Welten den gleichen Wahrheitsbedingungen unterliegen. Nun können wir uns aber problemlos vorstellen, dass eine Person P, die den Ausdruck „dumm“ missversteht (beispielsweise jemand, dessen Muttersprache nicht deutsch ist, und der irrtümlich gelernt hat, „dumm“ stehe für die Farbe grün) der Aussage b) vehement widersprechen würde. „Nein, Theresa ist nicht dumm! Sie ist doch kein Alien!“
Auf dieses Dilemma hat der Verfechter des Kontextualismus natürlich sofort eine Antwort parat:
„P und die von P angesprochenen Personen befinden sich nicht im gleichen Kontext! Fehler in der Übersetzung führen zu inhaltlichen Missverständnissen. Sobald sich der Kontext angeglichen hat, kann auch der Inhalt wieder korrekt übermittelt werden.“
Ist also das Verständnis der gleichen Sprache notwendige Bedingung für die Vermittlung von Inhalt? Beispiele aus dem Alltag widerlegen dies auf einleuchtende Weise: Das französische Mädchen, dass sich an die Schulter des amerikanischen Soldaten schmiegt, muss kein Wort Englisch verstehen, um das Interesse am gemeinsamen Beischlaf auszudrücken und in die Tat umzusetzen. In diesem Falle scheint also die Körpersprache als lingua franca völlig auszureichen.
Doch beschränken wir uns auf die Vermittlung von Inhalt durch sprachliche Äußerungen. Wie können wir Kontext definieren? Was sind die Voraussetzungen für das erfolgreiche Vermitteln sprachlichen Inhalts?
Als erste Bedingung können wir festhalten: (1) Ausreichendes Verständnis der gleichen Sprache.
Doch das ist bei weitem nicht genug. Stellen wir uns vor, P hätte mittlerweile genug Deutsch gelernt, um den Satz b) unmissverständlich nachvollziehen zu können, sagt aber: „Nein, Theresa ist nicht dumm! Sie hat zahlreiche Schachturniere gewonnen.“ Offenbar handelt es sich um eine andere Theresa Marx, die P zufällig auch zu seinen Bekannten zählt. Dann muss der Sprecher, der b) gegenüber P geäußert hat, den Kontext angleichen, und beispielsweise sagen: „Ich meine eine andere Theresa Marx, nämlich die, die sich verzweifelt bemüht, eine klare Abgrenzung zwischen Semantik und Pragmatik zu formulieren.“
Der gemeinsame Kontext wurde also wiederhergestellt durch eine Verdeutlichung des Objekts der Aussage b) durch Auflistung seiner Eigenschaften. Diese kann man so weit führen, wie es die jeweilige Situation verlangt, bis also (2) kein Zweifel mehr daran besteht, über welches Objekt in der Welt wir eine Aussage treffen.
Diese zweite Bedingung für die Vermittlung sprachlichen Inhalts stellt uns jedoch vor weitaus mehr Probleme als die erste.
Denn wie können wir das Objekt des Diskurses festlegen? Natürlich können wir gelegentlich auf nonverbale Mittel zurückgreifen (z.b. auf die Person zeigen), doch wenn sich diese Möglichkeit nicht bietet (die im Übrigen auch in eine indexikalische Aussage überführbar wäre, wie „Diese da ist dumm“), müssen wir wohl oder übel auf Sprache zurückgreifen, um den gemeinsamen Kontext wieder herzustellen.
Es scheint, als ob wir uns in einem Teufelskreis befänden: Damit Sprache verständlich ist, muss sie in einem Kontext stattfinden. Damit der Kontext jedoch der selbe ist, muss er zunächst durch Sprache erzeugt werden!
Vielleicht aber ist ja jede sprachliche Explikation durch nonverbale Kontexterzeugung ersetzbar? Dieser Einwand lässt sich leicht beiseite wischen. Auf wie viele Objekte in der Welt müsste ein Spanier zeigen, bevor Ihnen der Ausdruck „significado“ verständlich wäre? Ein Griff zum Wörterbuch hingegen würde sofort Erleuchtung bringen: „significado“ heißt „Bedeutung“. Natürlich könnte man auch (fast?) genauso gut durch Definitionen zum gemeinsamen Kontext kommen. Es steht aber außer Frage, dass manche Teile der Sprache -Fußnote1- nur durch andere Teile der Sprache (ein-)bedeutsam gemacht werden können.
Es kann argumentiert werden, dass doch aber jede einzelne Sprache S auf Konventionen beruht, das heißt, dass im und durch den gemeinsamen Kontext K gewisse linguistische Übereinkünfte getroffen werden, die es den Sprechern erlaubt, sich mit den gleichen Lautäußerungen auf die gleichen Objekte in der Welt zu beziehen. Dieser Prozess des Entstehens einer Sprache S kann beim Übergang einer Pidgin- in eine Kreolsprache beobachtet werden: Die Kinder der Pidgin-sprechenden Generation bauen die bestehende Grammatik und das entstandene Vokabular immer weiter aus bis zu einem hochkomplexen System, das es ihnen erlaubt, Inhalte auf die gleiche konkrete oder abstrakte Weise wieder zu geben, wie in jeder anderen S in L.
K ist also notwendige Bedingung für das Entstehen von S. Genausogut ist aber K' Bedingung für das Entstehen von S'. Dennoch (und trotz aller möglichen Missverständnisse) ist die Übersetzung von S in S' möglich und wird permanent praktiziert. Heißt dies etwa, dass ein Sprecher von S seinen Kontext K aufgeben muss, um S' in K' sprechen zu können? Das wäre logisch unmöglich, da S ja aus K entstanden ist, K also das Fundament für S bildet. Spricht besagter Sprecher also S' in K? Das wäre zwar möglich, da es ja nicht ausgeschlossen ist, dass S' ausgehend von S in K gelernt werden kann, würde aber zu nichts führen, da der Hörer S' durch K' gelernt hat, die beiden sich also in verschiedenen Kontexten unterhalten würden, was, wie wir gesehen haben, die Vermittlung von sprachlichem Inhalt nahezu unmöglich macht.
Wir müssen also schlussfolgern, dass der Sprecher von S gelernt hat, S' in K' zu sprechen, also er einen neuen Kontext erworben hat sozusagen als Ergänzung zu K, oder dass der Hörer in der Lage ist, S' auch in K zu verstehen. In jedem Fall müssten wir schlussfolgern:
P1: Die Übersetzung von S zu S' (und umgekehrt) ist möglich.
P2: S entsteht aus K, S' entsteht aus K' (S → K; S' → K')
C: Die Übersetzung von K zu K' (und umgekehrt) ist möglich.
Die erste Prämisse erhalten wir durch empirische Tatsachen, die zweite Prämisse aus dem Postulat, sprachliche Bedeutung sei ausschließlich durch den gemeinsamen Kontext möglich, und aus der Tatsache, dass die Entstehung einer Sprache einen gemeinsamen Kontext voraussetzt (Konvention). Und doch scheint uns die Konklusion etwas weit her geholt. Dies liegt an der Unterscheidung zwischen dem Kontext des Spracherwerbs und dem Kontext der späteren Sprachverwendung. Der Kontext K des Spracherwerbs der eigenen Sprache S kann niemals dem Kontext K' einer anderen Sprache S' angeglichen werden (allein schon weil bisher keine funktionierenden Zeitmaschinen konstruiert wurden).
Demnach muss es also einen bestimmten Kontext Kt geben, einen gemeinsamen Nenner in der Jetzt-Zeit, den beide Subjekte des Sprechakts teilen können (wenn sie nur alle Missverständnisse aus dem Weg räumen). Wir müssen also (2) noch um diesen Aspekt erweitern:
(2') Zum erfolgreichen Übermitteln sprachlichen Inhalts muss ein Kontext Kt gegeben sein, der es den Subjekten des Sprechakts erlaubt, sich auf das selbe Objekt in der Welt zu beziehen.
Wie aber ist es möglich, dass trotz des extrem individuellen Kontextes K ein (späterer) Kontext Kt mit einem Subjekt aus K' geteilt werden kann?
Offenbar ist ein beliebiger Kt aus K ableitbar.
Das erscheint nun etwas absurd – wie sollte beispielsweise der Kt einer Diskussion über Teleosemantik abgeleitet werden aus dem K des Spracherwerbs in einem Odenwälder Bauerndorf? Die Antwort liegt auf der Hand. K legt die Konventionen fest für S; und S wiederum ermöglicht die Herstellung eines beliebigen Kt!
Und ebenso gut ermöglicht K' den Erwerb von S', welche es wiederum ermöglicht, Aussagen in demselben Kt zu treffen. Kt lässt also den Rückschluss zu auf einen beliebigen K (K', K'',...). Ohne dass jemals ein K vorhanden gewesen wäre, hätte es auch keinen Kt geben können.
Kt → S → K v K' v K'' v...
In Worten: Die Tatsache, dass es einen gemeinsamen temporären Kontext Kt gibt, impliziert die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache S, die sich aber wiederum auf verschiedene Kontexte des Spracherwerbs zurückführen lässt. Kt wäre also undenkbar ohne S! (Soweit wir uns weiterhin auf rein sprachliche Äußerungen beziehen.)
Fußnote 1: Ich beziehe mich hier nicht auf eine beliebige konventionale Sprache S, sondern auf das linguistische Phänomen L selbst (S ist ein Teil von L; innerhalb L's kann S in S' übersetzt werden).
Fortsetzung folgt.
theresa marx am 25. Oktober 10
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Vom Vorleser zum Vorbeter: Bernhard Schlinks "Das Wochenende"
Nach über 20 Jahren Haft wird der fiktive deutsche Terrorist Jörg begnadigt. Um ihm die Rückkehr in die Freiheit zu erleichtern und ihm evtl. eine Arbeitsstelle zu verschaffen, lädt seine mütterlich-fürsorgliche Schwester Christiane ihn und ein knappes Dutzend der Freunde von einst auf ein abgelegenes Landgut ein.
Die Situation ist offensichtlich: In der „geschlossenen Gesellschaft“ dieser ehemaligen Revoluzzer und heute angesehenen Staatsbürger soll sich ein überbesetztes psychologisches Kammerspiel entspinnen, in dessen Verlauf nicht nur die Frage nach Schuld und Sühne des vierfachen Mörders Jörg gestellt und beantwortet werden soll, sondern das auch die Lebensläufe der oberflächlich so wohlintegrierten einstigen Staatsfeinde hinterfragt und so schließlich im Ganzen eine kathartische Aufarbeitung der deutschen RAF-Vergangenheit darstellen soll.
Die Charaktere werden nun präsentiert:
Als offenkundigen Gegenspieler Jörgs finden wir Ulrich, den wohlsituierten Kapitalisten und Besitzer mehrerer Dentallabors, der Jörg ein ums andere Mal durch ausgesprochen platte Fragen zu provozieren sucht: „Ich werde nie meine erste Brücke vergessen; ich habe in keine spätere Arbeit so viel Zeit und Liebe gesteckt und an ihr was fürs Leben gelernt. Wie war das mit dem ersten Mord, Jörg?“
Ulrichs arrogant zur Schau gestellte moralische Überlegenheit wird selbstverständlich untergraben, allerdings auf nicht weniger platte Weise:
„Immer wieder kostete es ihn alle Kraft, seiner Tochter, wenn sie mit ihm redete, tatsächlich zuzuhören und nicht auf die Lippen zu sehen, ihr nicht auf den hüpfenden Busen zu starren, wenn sie die Treppe hinunterkam, und nicht auf den Po, wenn sie vor ihm die Treppe hinaufstieg.“
Ebenfalls auf der Seite der oberflächlich moralisch Reinen gibt es die Landesbischöfin Karin, deren salbungsvolle Art so gar nicht zu den heiklen Themen passen will, die aufgearbeitet werden müssen. Es wird kaum jemanden überraschen zu hören, dass ihre „dunkle Seite“ durch eine vor Jahrzehnten vorgenommene Abtreibung repräsentiert wird, die ihre Glaubwürdigkeit als konsequente Christin untergraben soll, den Leser in ihrer Banalität allerdings nur ein wenig langweilt.
Als Gegenentwurf zu Karin erscheint mir Margarete, die gemeinsam mit Christiane das Landgut in Brandenburg besitzt und eine eher heidnische, dunkel magische Weltsicht verkörpert, die einen angenehmen Gegensatz zu den überdeutschen Figuren bildet, im Endeffekt aber als Katalysator zweckentfremdet wird, wie wir noch sehen werden. Ihre Rolle als Trost spendende Erdmutter zeigt sich besonders deutlich in ihrer aufkeimenden Liebesbeziehung mit Henner, einem Starjournalisten, der sich als das „natürlichste Bedürfnis der Welt“ in ihrem Schoß ausruhen darf.
Margarete ist untrennbar mit der idyllischen märkischen Landschaft verwoben, die in ihrer Abgeschiedenheit eine Art raum- und zeitlose Insel bildet, die den Personen zum einen die Nähe aufzwingt, sie zum anderen aber auf ruhige Weise zu ihren eigenen Gedanken zurückführt und ihnen ermöglicht, sich als das preiszugeben, was sie sind. Dass die Möglichkeiten der Enthüllung in diesem befremdlich friedlichen Szenario vom Autor kaum genutzt werden, überrascht nicht weiter, da sich seine Vorstellung von psychologischen Dramen zumindest in diesem Roman weitestgehend auf das steife Interagieren von Stereotypen beschränkt. Margarete offenbart ihre Tendenz zum Magischen in einem Monolog, der die irrationalen Aspekte der Schuld aufzeigen soll, die Schlink so faszinieren:
„Wir sind hier draußen ein bisschen zurück. Zu uns kommen im Herbst mit den Nebeln noch die Geister, und wenn’s im Sommer nachts ruft, sind es nicht nur die Käuzchen. Bei uns gibt es noch Hexen und Feen, und es gibt Flüche, die manchmal erst nach Generationen von uns genommen werden.“1
Des Weiteren dürfen wir das graue Mäuschen Ilse bedauern, die Lehrerin, die ihr „Leuchten“ verloren hat und selbstverständlich nur mit ihren zwei Katzen zusammenlebt, und der eine ganz besondere Aufgabe zukommt: Sie verfasst einen Roman im Roman, der die Geschichte eines weiteren Terroristen erzählt, was Schlink die Möglichkeit bietet, den Geist von damals auferstehen zu lassen, die brutalen Ereignisse und Schlagwörter auf unverfängliche Weise in die Erzählung einzuweben, ohne den Fluss des Jetzt-Geschehens allzu abrupt zu durchbrechen. Tatsächlich gelingt diese Rückschau theoretisch; der Leser mag zwar eine Zweiterzählung in einem so schmalen und überschaubaren Roman als gekünstelt und überfrachtet empfinden, hat aber zumindest nach dem anfänglichen Gefühl des Gezwungenen einen Eindruck des subjektiven Innenlebens des „Terroristen an sich“, das in der Haupterzählung sehr flach geschildert wird.
Leider kann sich Schlink auch in dem eingewobenen Roman nicht von seinem favorisierten Muster von Schuld und Sühne lösen: Ilses Protagonist Jan, ein Mitstreiter von früher, dessen mysteriöser Suizid viele Fragen offen ließ, kommt in der Erzählung um bei dem von ihm unwissentlich mitbetriebenen Anschlag auf das World Trade Center und büßt durch seinen Tod und das Bedürfnis, einer jungen Frau zu helfen, die in der gleichen auswegslosen Situation gefangen ist.
„Alles was er getan hat, war richtig, wenn er jetzt fliegt.“2
Auf der Seite Jörgs will Marko stehen, dessen kämpferischer Idealismus zum einen das Gedankengut von vor dreißig Jahren wiederspiegeln, zum anderen das Sprachrohr der neuen jungen fanatischen Linken sein soll, und der sich in Parolen ergeht:
„Weil die Probleme nicht gelöst sind, kommen sie wieder. Auch die RAF kommt wieder […] und weil der Kapitalismus global geworden ist, wird sie ihn auch global bekämpfen – konsequenter als damals.“3
Marko will Jörg durch eine aufrührerische Pressemitteilung als Idol des linken Terrorkampfs auferstehen lassen – im Bündnis mit den islamistischen Bewegungen – und reagiert auf die Kritik der anderen so, wie wir es von einem Fanatiker mit Tunnelblick erwarten:
„Du hast den Traum von der Revolution verraten, ihr alle habt den Traum verraten und euch kaufen und korrumpieren lassen. Nicht mit mir und nicht mit Jörg. Ihr werdet ihn nicht zum Verräter machen.“
Wir erfahren nicht, was Marko dazu veranlasst hat, sein Heil und das der Welt in der terroristischen linken Bewegung zu suchen; er bleibt eine blasse, schemenhafte Figur, deren Hauptfunktion darin besteht, zumindest ein wenig Abwechslung in die oft vorhersehbaren und akademisch gestelzt wirkenden Dialoge zu bringen, doch die anderen Figuren reagieren – zu Recht – meistens mit einer gewissen Überheblichkeit auf seine verbalen Ausbrüche und lassen ihn so als Provokateur ins Leere laufen.
Nach ungefähr der Hälfte des Buches taucht eine Person aus dem Nichts auf, ein angeblicher Kunststudent, der sich ungemein für die Architektur des Landsitzes interessiert. Die Befürchtungen, er könne der Presse angehören, beschränken sich auf ein Minimum und aus unerfindlichen Gründen wird er beinahe wie ein altes Familienmitglied aufgenommen -
„Bei allem war er so wohltuend bescheiden und Christiane binnen kurzem so vertraut, dass sie ihm anbot, er könne sich gerne allein weiter umschauen.“
- als das er sich dann auch tatsächlich entpuppt: Er ist Jörgs Sohn Ferdinand; einst vom Vater verlassen und so gezwungen, die Mutter bei Verfall und Selbstmord zu begleiten, ist er zurück als Racheengel der Vergangenheit und Sprachrohr aller Opfer des Terrorismus der RAF – inwieweit er irgendein Recht hat, sich ebenfalls als Terror-Opfer zu fühlen, wird selbstverständlich nicht hinterfragt, aber schließlich brauchen wir ja diese Rolle, um die Dramatis personae zu einer ästhetisch ausgewogenenen Diskussionsrunde zu ergänzen. Das spaßigste an dieser „dramaturgisch überfrachteten Rolle“ (FAZ) ist noch die Erleichterung von Ulrichs attraktiver Tochter, die sich von Jörgs sexueller Zurückweisung sehr gekränkt fühlt, sich aber nun immerhin mit dem Sohn des berühmten Terroristen vergnügen kann – leider schämt sich der Autor dann doch zu sehr, um Dorle als das vergnügungssüchtige oberflächliche Flittchen zu präsentieren, als das er sie bisher entwickelt hatte, und lässt sie und Ferdinand sich gegenseitig trösten und wortlos verstehen – Katharsis und Erlösung, soweit das Auge reicht.
Der Gedanke des sich über Generationen hinweg erstreckenden Fluches von Schuld und Sühne kann nun anhand Ferdinands plakativ ausgearbeitet werden, und Henner tut uns sogar den Gefallen, uns zu erklären, was wir fühlen sollen, wenn der Sohn hitzige Reden gegen den Vater schwingt:
„Der Sohn war ihm nicht geheuer. Je länger er ihm zugehört hatte, desto mehr erinnerte seine Unerbittlichkeit ihn an Jörgs Unerbittlichkeit von damals, und er dachte daran, wie das Unheil sich fort und fortpflanzt.“
Doch durch seine heftigen Beschuldigungen, die einem verbalen Vatermord gleichkommen sollen, lädt Ferdinand wiederum die Schuld des übereifrigen Sühnens auf sich, die er seinem Vater vorwirft und der er zu entkommen sucht.
Natürlich hat Schlink, eifriger Verfechter der Bildungsdiktatur, die Antworten auf dieses Dilemma parat: Es muss ausdiskutiert werden, beschuldigt und gestanden, geschrien und geweint, damit man sich schlussendlich gemeinsam an das Auflösen des Problems machen kann, am besten in einem symbolischen Akt der Reinigung und Restauration, wie sie am Schluss des Romanes stattfindet, nämlich durch die gemeinsame Entwässerung von Margaretes überschwemmtem Keller – als alle Hand in Hand durch eine Eimerkette das verborgene Fundament des Hauses trockenlegen und in neuem Glanz erstrahlen lassen, kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, der Autor wolle seinen Roman gerne als historische Lymphdrainage verstanden sehen, als überaus wichtigen Schritt auf dem Wege in die Erlösung der Deutschen von ihrer historischen Schuld, generationenübergreifend und durch stilles, doch tiefes Verständnis füreinander geprägt.
Meiner Meinung nach tut dem Roman auch die Perspektive des allwissenden Erzählers nicht gut. Bei Schlinks populärstem Werk, dem „Vorleser“, wird bekanntlich ein ähnliches Thema behandelt; auch dort wird die Schuldfrage gestellt und in Teilen beantwortet, doch bewahrt sich der Ich-Erzähler immer noch eine gewisse kritisch-ironische Distanz:
„Aufarbeitung! Aufarbeitung der Vergangenheit! Wir Studenten des Seminars sahen uns als Avantgarde der Aufarbeitung. […] Ich denke jetzt, dass der Eifer, mit dem wir Furchtbarkeiten zur Kenntnis nahmen und anderen zur Kenntnis bringen wollten, tatsächlich abstoßend war.“
Auch macht der Protagonist des Vorlesers eine Entwicklung durch; der Eifer seiner jungen Jahre wird im Nachhinein revidiert und durch selbstkritische Einsichten ersetzt.
„Ich konnte auf niemanden mit dem Finger zeigen. […] Wie kann man Schuld und Scham empfinden und zugleich selbstgerecht auftrumpfen?“
Eben diese Frage stellt sich auch dem Leser bei der Begegnung mit den zahlreichen Charakteren des „Wochenendes“. Natürlich leidet Jörgs Sohn Ferdinand unter der unverständlichen Schuld, die sein Vater auf sich geladen hat, doch er kommt reflektiv nicht über das dumpfe Gefühl hinaus, ein vom Vater ungerecht verlassenes Kind zu sein, das sich trotz allem nach dessen Liebe sehnt. Und im Gegensatz zum Vorleser, der sich über mehr als ein Jahrzehnt erstreckt, müssen hier die Figuren innerhalb von zwei Tagen ein Gefühlsspektrum durchlaufen, dass von Verwirrung über Hass und Unverständnis bis zur Versöhnung und Läuterung reicht.
Natürlich sind geschlossene Gesellschaften reizvoll. Im gleichnamigen Dramas Sartres treffen wir auf eine ähnliche Situation, allerdings begrenzt auf drei Protagonisten. Auch dort wird in weniger als zwei Tagen die Schuld der Vergangenheit offenbar, auch dort erleben die Figuren eine breite Palette starker Gefühle. Doch im Gegensatz zu Schlink fordert Sartre seinen Figuren keine Läuterung, keinen plötzlichen Wandel ab; im Gegenteil: Die Schuld der Vergangenheit und ihre ständige Präsenz durch die spiegelnden Augen der anderen wird für jeden zu seiner persönlichen Hölle.
Doch eben dieses Psychospielchen mag Schlink nicht so recht gelingen; wir treffen auf eine prädeterminierte Situation vorgefertigter Charaktere, die entsprechend ihrer jeweiligen Rolle agieren und reagieren. Immerhin ist die Auflösung am Schluss nicht zu hundert Prozent harmonisch; Marko, der junge Revoluzzer, bespritzt Andreas, den gesetzten vernünftigen ehemaligen Anwalt von Jörg mit Wasser.
Als problematisch empfinde ich auch die Gleichsetzung von familiärer und historischer Schuld. Es erscheint mir fragwürdig bis absurd, den kaltblütigen Mord an vier Menschen und das Verlassen von Frau und Kind in einem Aufwasch zu behandeln, obwohl es Schlink vielleicht wie ein besonders gelungener Kniff vorkam, der die immer vorhandene subjektive Seite der Schuld illustrieren soll. So sagt Ferdinand zu Jörg:
„Du hast keinen Grund, Mutter mehr zu bedauern als deine anderen Opfer. Und mich erst recht nicht, immerhin lebe ich.“
Doch weitaus schlimmer ist die Gleichsetzung von Morden im Zuge des RAF-Stadtguerillakampfes und dem Völkermord in der Zeit des 3. Reiches. Natürlich haben sich die RAF-Terroristen mit der Schuld ihrer Elterngeneration auseinander gesetzt und sind eventuell sogar in Teilen ein Produkt dieser Schuld, doch hat die staatlich organisierte Ermordung von Millionen von Menschen beim besten Willen keine Entsprechung in der individuellen Entscheidung, ein ideologisch motivierter Mörder zu werden, der fortan vor Staat und Gesetz fliehen muss. Für Schlink jedoch ist das alles ein und dasselbe, wie wir auch an Ferdinands Worten erkennen können:
„Du weißt es nicht mehr? Du weißt nicht, ob du ihn erschossen hast oder ein anderer? … Am Ende weißt du es wirklich nicht, und die Alten wussten auch nicht mehr, dass sie Juden erschlagen und erschossen und vergast haben.“ Und natürlich verfällt Ferdinand auch bald in die Anrede in der 2. Person Plural:
„Du bist zur Wahrheit und zur Trauer so unfähig, wie die Nazis es waren. Ihr habt euch über eure Eltern aufgeregt, die Mörder-Generation, aber ihr seid genauso geworden.“
Doch Jörg zeigt sich schließlich ja doch noch reuevoll und ehrlich. Dürfen wir daraus schließen, dass auch die Nazis nur ein bisschen Konfrontation mit ihren Kindern und alten Freunden gebraucht hätten, um einzusehen, wie falsch sie doch gehandelt haben, und um wie verirrte Schäfchen auf den rechten Weg zurück zu finden? Ich befürchte, dass uns Schlink genau das sagen will. Indem er Jörgs Verbrechen zu den Ausmaßen von planvollem Genozid hochstilisiert, nivelliert er die Schuld, und zeigt uns, dass es das wirklich böse Handeln ja gar nicht gibt, sondern dass Irren menschlich ist. Eine meiner Auffassung nach nicht nur komplett fehlgeleitete sondern nahezu gefährliche Ansicht. Ein Rezensent hat dem Roman gewünscht, er möge zur Schullektüre werden, um die „gelangweilte Verachtung“ zu erhalten, die er verdiene; doch muss ich dem Kritiker eben aufgrund dieser Gefahr widersprechen. Wir brauchen mit Sicherheit keine Literatur, die Deutschlands historische Rolle zu einem bedauernswerten Irrtum umdichtet, der aus den Fehlentscheidungen einzelner fehlgeleiteter Individuen resultierte.
Wir sehen also eine Umwertung und Gleichsetzung von Schuld auf drei Ebenen: Die „schwächste“ Schuld sozusagen, die individuelle Schuld eines Mannes, der sich nicht um Frau und Kind schert, wird gleichgestellt mit der Schuld eines Mörders, der aus seinen Überzeugungen blutigen Ernst macht. Und dieser vierfache Mörder hat nun nach Schlinks Auffassung ebenso viel Schuld auf sich geladen wie der institutionalisierte Massenmörder, der sich komplett vom Konzept der menschlichen Würde und des Schutzes menschlichen Lebens abgewandt hat und ohne jeden Affekt oder einen Anflug von Gewissen tötet. Diese Gleichsetzung ist nicht nur moralischer, sondern wohl auch juristischer Blödsinn.
Werfen wir nun einen Blick auf die von Schlink verwendete Sprache. Im Tonfall ist das Buch einfach bis banal, mit gelegentlichen Ausrutschern in einen oberlehrerhaften bzw. veralteten Stil: „so hatte man ihr´s erklärt und so gefiel´s ihr“; „und Margarete war´s zufrieden.“. Meistens sprechen die Personen wie Roboter, denen man Schlinks Lieblingsthesen in den Mund gelegt hat, und die beispielsweise aus seinem 1988 erschienenen Essay „Kollektivschuld“ stammen.
Außerdem lebt Schlink wieder einmal sein Faible für den Konjunktiv 1 und die indirekte Rede aus, das uns schon in „Der Vorleser“ etwas übertrieben vorkam. In diesem Roman taucht es besonders geballt auf an folgender Stelle:
„Als sie fragte, ob der junge Mann wie ein Reporter gewirkt habe, spürte sie sofort Misstrauen und Ablehnung. Worüber es denn aus dem Schloss zu berichten gebe? Was an diesem Wochenende eigentlich los sei? Warum so viele Autos vor dem Tor parkten?... wenn hier etwas nicht mir rechten Dingen zugehe und die Reporter nicht selbst drauf kämen, könne man es ihnen auch stecken.“
Als der junge Mann angekommen ist, darf auch er mit Konjunktiven um sich werfen:
„Ob sie wisse, wer das Haus gebaut hat? Es erinnere ihn an Herrensitze von Karl Magnus Bauernfend, … alles trage seine Handschrift. Habe sie geprüft, ob die Decke und die Ecken unter dem weißen Verputz bemalt seien?
Gelegentliche Ausbrüche aus diesem trockenen und teilweise absurden Schulaufsatzdeutsch werden vom Leser als unpassend und übertrieben empfunden; der Verfall in die Vulgärsprache, die nur die prominentengeile Schlampe Dorle verwenden darf, wirkt sehr gewollt:
So beschimpft sie Jörg, als er sie von der Bettkante zurückstößt: „Du Schlappschwanz! Ficken ist kämpfen!“
und macht ihm, angesichts einer eventuellen im Gefängnis entstandenen Homosexualität ein eindeutiges Angebot:
„Ich mag in den Arsch gefickt werden.“
Wird tatsächlich einmal ein vergleichendes Bild verwendet, so vertraut Schlink natürlich nicht darauf, dass der Leser selbst auf die symbolische Bedeutung kommt, sondern lässt sie sofort von einer der Figuren erklären:
„Mit jedem Schritt wirbelte Christiane Staub auf, der lange genug über dem Boden hing, um ihr wie eine Schleppe zu folgen. Als hinge mir der Mantel der Vergangenheit von den Schultern, dachte sie.“
Des Weiteren dient die idyllische märkische Landschaft auch als Vorratskammer der Metaphern, vor allem das Wetter darf wieder und wieder als „Stimmungsbarometer“ benutzt werden; zum Beispiel kündigt originellerweise das aufziehende Gewitter den bevorstehenden Eklat zwischen Dorle und Jörg an, doch sobald der sanfte Regen einsetzt, ist alles wieder gut. Und als hätten wir es sonst übersehen, wird uns der Wetterumschwung auch noch unmittelbar nach dem ersten großen Streit und vor Dorles Nacktszene angekündigt:
„Sie haben recht“, sagte Eberhard zu Margarete. „Das Wetter schlägt um.“
Als alles auf dem Höhepunkt der Dramatik angelangt ist, setzt die Sintflut ein, als wolle sie nie wieder aufhören, und ihre zerstörerische Wirkung wird aufgehoben durch ein gemeinschaftliches Werk der Versöhnung. So hat der strömende Regen nicht nur den Keller geflutet – den wir vielleicht als das Unterbewusste, als das Fundament des menschlichen Geistes verstehen dürfen? - sondern auch gleich noch die Sünden der Vergangenheit hinweg gespült.
Wie etliche Kritiker bemerkt haben, gibt es enorm auffällige Parallelen zur Passionsgeschichte: Der zeitliche Rahmen gibt uns den ersten Hinweis; das Buch ist aufgeteilt in Freitag – Samstag – (Oster-)Sonntag. Wenn wir die ursprüngliche Besetzung um die zwei Außenseiter Marko und Ferdinand ergänzen, erreichen wir außerdem ein vollständig besetztes Abendmahl, mit Jörg an der „Breitseite der Tafel“. Links von ihm sitzt Christiane, als Johannes, die engste Vertraute, und neben ihr der vermeintliche Verräter Hennes.
Doch tatsächlich ist unser Judas ein anderer: Jörgs Überschwester Christiane hat ihn damals an die Polizei verraten, natürlich nur zu seinem Besten. Als sie ihm dies schließlich beichtet, ist unser ökumenischer Bußgottesdienst bereits soweit fortgeschritten, dass er ihr ohne Weiteres verzeihen kann.
So stellt Schlink den Prozess der Schuldaufarbeitung und Verzeihung in einen heilsgeschichtlichen Kontext, in dem Versöhnung nicht unbedingt als Frucht der eigenen engagierten Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne, sondern eher als Gnade empfunden wird, die demjenigen widerfährt, der sie offiziell beantragt und auf die entsprechende Klausel im Gesellschaftsvertrag hinweist.
Alles ist Jörg zu vergeben, als wir erfahren, dass er an Prostatakrebs leidet – sein persönliches, ihm völlig willkürlich widerfahrendes Martyrium reinigt ihn von der Schuld seiner Vergangenheit. Zwar kann ihm sein Sohn trotzdem nicht stante pede verzeihen und hat noch einmal Gelegenheit für einen Ausbruch:
„Glaub nicht, dass ich Mitleid mit dir hätte, nur weil du Krebs hast und Windeln trägst. Es ist mir völlig gleichgültig.“
Doch erfahren wir ganz am Ende, dass er seinem Vater über Christiane Adresse und Telefonnummer zukommen lässt, und können uns so problemlos vorstellen, wie das Ganze weitergehen wird: Vorsichtige erste Treffen, Entwicklung einer echten, tiefen Vater-Sohn-Beziehung, und schließlich Abschiednehmen am Totenbett im Geiste der Reue und Vergebung. Christus hat die Sünden der Nazis und RAF-Terroristen auf sich genommen und darf nun durch seine Kreuzigung im Krankenbett die deutsche Geschichte befrieden.
theresa marx am 25. Oktober 10
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Verweile doch, du bist so schön...
… das mag sich wohl auch Sabine Thiesler gedacht haben, als sie ihren „Kindersammler“ auf der Bestsellerliste erblickte. Ha, welch ein Augenblick! Zum Glück hatte sie ja auch noch „Hexenkind“ in der Hinterhand, das nach dem plötzlichen Erfolg des (eigentlich) zweiten Krimis prompt auch seinen Platz in den ersten Rängen der Belletristik-Charts fand. Dazu kann man ihr nur herzlich gratulieren. Der „Kindersammler“ ist ein clever konzipiertes, vielschichtiges psychologisches Drama mit unvorhergesehenem Ende, das einen von der ersten Seite an in den Bann zieht. Zahlreiche Wechsel der Perspektive sowie geschickt und kohärent konstruierte Zeitsprünge fesseln die Aufmerksamkeit des Lesers und geben Einblicke in die Motivation der Protagonisten.
Auch beim „Hexenkind“ spürt man die Liebe zum Detail, die Sorgfalt, die die Autorin auf die Entwicklung ihrer Charaktere verwandt hat, doch irgendwie gelingt dem Buch nicht der Sprung vom Frauen-Krimi zur allgemein ansprechenden Unterhaltungsliteratur. Die eigentliche Haupthandlung – Tod und Verderben – findet erst ganz zum Ende hin statt, und auch wenn die Auflösung durchaus ihren Reiz hat, fehlt doch der durchgehende Spannungsbogen, der den „Kindersammler“ so attraktiv für ein breites Publikum macht.
Lassen wir das der sympathischen Autorin, die uns auch schon mit „Tatort“- und „Traumschiff“-Episoden beglückt hat, noch einmal durchgehen. Immerhin besteht der Großteil der Belletristik-Leser aus Leserinnen, deren Lesevergnügen nicht ausschließlich auf Spannung basiert, und die an ausgedehnten – und keineswegs oberflächlichen! - Beschreibungen von Freundschaft und Verrat, Liebe und Betrug, wohl ebenso viel Gefallen fanden wie am psychologischen Profil eines pädophilen Mörders.
Doch, noch einmal ganz frei nach Goethe, der ist der glücklichste Mensch, der das Ende seiner literarischen Karriere mit dem Anfang in Verbindung setzen kann. Nachdem Thiesler uns mit ihren ersten beiden Werken (fast) restlos begeistern konnte, war es nicht überraschend, dass bald darauf auch „Die Totengräberin“ und „Der Menschenräuber“ einen Kampf um die Spitze der Spiegel-Bestsellerliste ausfochten. Leider war das Glück nur von kurzer Dauer. Selbst der unerfahrenste Leser spürt (nicht nur an der Titelwahl), dass Frau Thiesler äußerst bemüht war, ihr so erfolgreiches Konzept möglichst unverändert zu wiederholen, beliebte Charaktere, wie Gabriella, die skeptisch-schlaue Frau des etwas vertrottelten Dorfpolizisten, wieder auf die Bühne des Geschehens zu bringen, um nur ja dem Geschmack der LeserInnen vollauf zu entsprechen, der ihr ja einst zu Ruhm und Ehre auf dem volatilen Markt der beliebtesten Urlaubslektüre verholfen hatte.
Nun ist es ja nicht unbedingt moralisch falsch, dem Gusto des Publikums entsprechen zu wollen, um die Verkaufszahlen zu fördern. Schade nur, wenn man zwar äußerlich alles richtig macht, es am Ende aber doch nicht gelingen will, eine wirklich gute Geschichte entstehen zu lassen, der man die Liebe der Autorin zu ihren Figuren anmerkt, die den Leser in den Bann zieht und ihn noch über den Epilog hinaus beschäftigt.
Sowohl „Die Totengräberin“ als auch „Der Menschenräuber“ basieren wieder auf der psychologischen Konstitution ihrer Protagonisten – allerdings wird einem der jeweilige „Schaden“ geradezu mit dem Holzhammer eingetrichtert. War in „Hexenkind“ der Hass auf die Mutter noch die Folge einer subtilen Vernachlässigung und Entfremdung, so sind die Motive in den beiden Folgewerken mehr als deutlich zu erkennen.
Ihr Mann hat sie verlassen. Punkt. Seine Tochter ist tot. Punkt.
Dass die beiden jeweiligen Hauptpersonen durch diese Ereignisse zu extremen und tödlichen Handlungen verleitet werden, mag den Thiesler-Leser kaum überraschen. Doch selbst das wäre noch zu verzeihen, wären nicht alle, aber auch wirklich alle Akte der Figuren komplett vorhersehbar, mangelte es nicht – im Vergleich zum „Kinderschänder“ - an jeder Art von Liebe zum Detail, könnte man irgendeine Sympathie zu den Protagonisten entwickeln. Doch das ist nicht der Fall.
Was nun die äußere Konstruktion der beiden letzten Romane anbelangt, so gibt sich Thiesler wirklich Mühe, ihre bewährten Konzepte wieder umzusetzen; es wimmelt also von Zeitsprüngen, die Geschichten werden von hinten aufgerollt, bis sich Vergangenheit und Gegenwart zu einem Strang fügen; oh, und natürlich spielt die Haupthandlung in der Toscana. Doch so blutleer wie das Innenleben der Figuren ist auch die Story: der „Totengräberin“ fehlt der Höhepunkt, das Finale des „Menschenräubers“ ist nicht einmal mit viel gutem Willen noch glaubwürdig.
Ein Gutes hat die Sache: Ich musste mich kaum über die vertane Zeit ärgern, da sich beide Bücher in einem Aufwasch zügig durchlesen lassen. Was das über ihre literarische Qualität und Tiefe aussagt, sei dahingestellt.
In jedem Fall wünsche ich mir, dass sich Frau Thiesler für ihr nächstes Werk ein wenig mehr Zeit nimmt (vielleicht sogar so viel, bis ihr eine wirklich gute Idee kommt, die sie dann hübsch genau ausarbeitet) und hoffe, dass sie bis dahin nicht ihre ganze frisch entstandene Anhängerschaft mit seichten Pseudo-Psychodramen in die Flucht geschlagen hat.
theresa marx am 25. Oktober 10
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