Montag, 25. Oktober 2010
Verweile doch, du bist so schön...
… das mag sich wohl auch Sabine Thiesler gedacht haben, als sie ihren „Kindersammler“ auf der Bestsellerliste erblickte. Ha, welch ein Augenblick! Zum Glück hatte sie ja auch noch „Hexenkind“ in der Hinterhand, das nach dem plötzlichen Erfolg des (eigentlich) zweiten Krimis prompt auch seinen Platz in den ersten Rängen der Belletristik-Charts fand. Dazu kann man ihr nur herzlich gratulieren. Der „Kindersammler“ ist ein clever konzipiertes, vielschichtiges psychologisches Drama mit unvorhergesehenem Ende, das einen von der ersten Seite an in den Bann zieht. Zahlreiche Wechsel der Perspektive sowie geschickt und kohärent konstruierte Zeitsprünge fesseln die Aufmerksamkeit des Lesers und geben Einblicke in die Motivation der Protagonisten.
Auch beim „Hexenkind“ spürt man die Liebe zum Detail, die Sorgfalt, die die Autorin auf die Entwicklung ihrer Charaktere verwandt hat, doch irgendwie gelingt dem Buch nicht der Sprung vom Frauen-Krimi zur allgemein ansprechenden Unterhaltungsliteratur. Die eigentliche Haupthandlung – Tod und Verderben – findet erst ganz zum Ende hin statt, und auch wenn die Auflösung durchaus ihren Reiz hat, fehlt doch der durchgehende Spannungsbogen, der den „Kindersammler“ so attraktiv für ein breites Publikum macht.
Lassen wir das der sympathischen Autorin, die uns auch schon mit „Tatort“- und „Traumschiff“-Episoden beglückt hat, noch einmal durchgehen. Immerhin besteht der Großteil der Belletristik-Leser aus Leserinnen, deren Lesevergnügen nicht ausschließlich auf Spannung basiert, und die an ausgedehnten – und keineswegs oberflächlichen! - Beschreibungen von Freundschaft und Verrat, Liebe und Betrug, wohl ebenso viel Gefallen fanden wie am psychologischen Profil eines pädophilen Mörders.
Doch, noch einmal ganz frei nach Goethe, der ist der glücklichste Mensch, der das Ende seiner literarischen Karriere mit dem Anfang in Verbindung setzen kann. Nachdem Thiesler uns mit ihren ersten beiden Werken (fast) restlos begeistern konnte, war es nicht überraschend, dass bald darauf auch „Die Totengräberin“ und „Der Menschenräuber“ einen Kampf um die Spitze der Spiegel-Bestsellerliste ausfochten. Leider war das Glück nur von kurzer Dauer. Selbst der unerfahrenste Leser spürt (nicht nur an der Titelwahl), dass Frau Thiesler äußerst bemüht war, ihr so erfolgreiches Konzept möglichst unverändert zu wiederholen, beliebte Charaktere, wie Gabriella, die skeptisch-schlaue Frau des etwas vertrottelten Dorfpolizisten, wieder auf die Bühne des Geschehens zu bringen, um nur ja dem Geschmack der LeserInnen vollauf zu entsprechen, der ihr ja einst zu Ruhm und Ehre auf dem volatilen Markt der beliebtesten Urlaubslektüre verholfen hatte.
Nun ist es ja nicht unbedingt moralisch falsch, dem Gusto des Publikums entsprechen zu wollen, um die Verkaufszahlen zu fördern. Schade nur, wenn man zwar äußerlich alles richtig macht, es am Ende aber doch nicht gelingen will, eine wirklich gute Geschichte entstehen zu lassen, der man die Liebe der Autorin zu ihren Figuren anmerkt, die den Leser in den Bann zieht und ihn noch über den Epilog hinaus beschäftigt.
Sowohl „Die Totengräberin“ als auch „Der Menschenräuber“ basieren wieder auf der psychologischen Konstitution ihrer Protagonisten – allerdings wird einem der jeweilige „Schaden“ geradezu mit dem Holzhammer eingetrichtert. War in „Hexenkind“ der Hass auf die Mutter noch die Folge einer subtilen Vernachlässigung und Entfremdung, so sind die Motive in den beiden Folgewerken mehr als deutlich zu erkennen.
Ihr Mann hat sie verlassen. Punkt. Seine Tochter ist tot. Punkt.
Dass die beiden jeweiligen Hauptpersonen durch diese Ereignisse zu extremen und tödlichen Handlungen verleitet werden, mag den Thiesler-Leser kaum überraschen. Doch selbst das wäre noch zu verzeihen, wären nicht alle, aber auch wirklich alle Akte der Figuren komplett vorhersehbar, mangelte es nicht – im Vergleich zum „Kinderschänder“ - an jeder Art von Liebe zum Detail, könnte man irgendeine Sympathie zu den Protagonisten entwickeln. Doch das ist nicht der Fall.
Was nun die äußere Konstruktion der beiden letzten Romane anbelangt, so gibt sich Thiesler wirklich Mühe, ihre bewährten Konzepte wieder umzusetzen; es wimmelt also von Zeitsprüngen, die Geschichten werden von hinten aufgerollt, bis sich Vergangenheit und Gegenwart zu einem Strang fügen; oh, und natürlich spielt die Haupthandlung in der Toscana. Doch so blutleer wie das Innenleben der Figuren ist auch die Story: der „Totengräberin“ fehlt der Höhepunkt, das Finale des „Menschenräubers“ ist nicht einmal mit viel gutem Willen noch glaubwürdig.
Ein Gutes hat die Sache: Ich musste mich kaum über die vertane Zeit ärgern, da sich beide Bücher in einem Aufwasch zügig durchlesen lassen. Was das über ihre literarische Qualität und Tiefe aussagt, sei dahingestellt.
In jedem Fall wünsche ich mir, dass sich Frau Thiesler für ihr nächstes Werk ein wenig mehr Zeit nimmt (vielleicht sogar so viel, bis ihr eine wirklich gute Idee kommt, die sie dann hübsch genau ausarbeitet) und hoffe, dass sie bis dahin nicht ihre ganze frisch entstandene Anhängerschaft mit seichten Pseudo-Psychodramen in die Flucht geschlagen hat.