Dienstag, 26. Oktober 2010
Was ist Kontext? Teil II
Wenngleich sich jedes S in L aus K entwickelt hat, scheint S gewisse Eigenschaften zu haben, die es ihr erlauben, sich in einem beliebigen Kt auszudrücken. Kt ist nicht in K impliziert, sondern auf gewisse Weise von den Eigenschaften von S abhängig (und vice versa), die über K hinausreichen. Welches sind diese Eigenschaften?

I.Generalisierung: Im Spracherwerb lernt das Kind, das gleiche Wort auf verschiedene Objekte in der Welt zu beziehen. Diese Fähigkeit verfeinert sich im Laufe der ersten Jahre1 und erreicht schlussendlich eine gewisse Stabilität. Wir sind dann fähig, das selbe Wort entweder auf ein unspezifiziertes Exemplar einer Spezies/Kategorie/Klasse („ich hätte so gerne eine Katze“), auf eine Spezies im Ganzen („ich mag keine Katzen“) oder auf ein bestimmtes Exemplar einer Spezies anzuwenden („meine Katze hat Hunger“). Psychologisch bedeutet dies, dass wir gelernt haben, vom Einzelnen auf das Allgemeine zu abstrahieren.

II.Reflexivität: Sprache kann sich auf Sprache beziehen. „Das erste Wort in diesem Satz hat drei Buchstaben.“ „ 'Das erste Wort in diesem Satz hat vier Buchstaben', ist eine Lüge.“ Der Wahrheitsgehalt tautologischer und kontradiktorischer Aussagen ist feststellbar einzig durch Überprüfung der logischen Struktur der verwendeten S.

III.Übersetzbarkeit: Jede beliebige Aussage p kann von S nach S' übersetzt werden oder durch S' inhaltlich wiedergegeben werden:
„His cat is sleeping.“ - „Seine Katze schläft.“
„Easy come, easy go.“ - „Wie gewonnen, so zerronnen.“
Wenngleich eine Absolutheit der Übersetzung nicht garantiert werden kann, so ist sie doch ein extrem effizientes konventionelles Mittel der Kontextangleichung, ohne welches der Transfer vielen Inhaltes überhaupt nicht zu bewerkstelligen wäre.

IV.Hypothetizität: Nur durch Sprache können wir uns auf Ereignisse beziehen, die nicht stattgefunden haben, oder Aussagen über Objekte treffen, die nicht existieren. Der Kontext ist immer faktisch; auch wenn er verändert und angeglichen werden kann, so ist er doch in jedem Moment für die sich in im befindliche Person eine Tatsache der Welt. Es ist unmöglich, ohne Sprache zu behaupten, dass Einhörner, sofern sie existieren, unsichtbar und rosa sein müssen. Des Weiteren ist jede Art von sinnhafter Verknüpfung (Kausalität, Implikation, Konditionale, etc.) nur auf sprachlicher Basis mitteilbar.

Diese Eigenschaften (ohne Anspruch auf Vollständigkeit), ermöglichen es, eine große Varianz an Kt zu kreieren, in denen die Vermittlung sprachlichen Inhalts bestätigtermaßen erfolgreich verläuft. Man kann mit guten Gründen annehmen, dass durch Sprache ein Maximum an Quantität und Qualität der Vermittlung von Inhalt erreicht werden kann. Es gibt Inhalte, die ohne Sprache nicht zugänglich sind, wie wir gesehen haben, aber keine Inhalte, die vermittelt werden ohne in Sprache ausgedrückt werden zu können. Alle geistigen Inhalte, die überhaupt mitgeteilt werden können (ich verweise hier auf die Qualia-Problematik), lassen sich auch sprachlich formulieren.
Aus dem Bisherigen können wir schlussfolgern: Die Sprache erschließt einen weitaus größeren logischen Raum als die Tatsachen der Welt selbst, die unseren Kontext bilden.

Fußnote 2:
In einem gewissen Alter sind Kinder beispielsweise fähig, die Bezeichnung “Katze” auf alle Katzen anzuwenden, hingegen nicht auf Hunde. Allerdings zählen sie weibliche Löwen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auch zu dieser Kategorie.



Was ist Kontext? Teil I
Dass der Kontext einer Äußerung ihren Sinn wesentlich mitbestimmt, wird niemand leugnen. Schließlich hätten (indexikalische) Aussagen wie a) „Ich bin ja so dumm!“ keine Bedeutung ohne einen Sprecher, der diesen Satz sagt. In meinem Falle könnte diese meine Aussage unter gewissen Umständen als wahr akzeptiert werden, sodass jemand, beispielsweise mein Professor, die gleiche Aussage mit anderen Worten formulieren könnte, ohne dass sich dabei ihre Bedeutung ändert:
b) „Theresa Marx ist ja so dumm!“
Beide Aussagen haben den gleichen Inhalt – die Dummheit einer gewissen Person –, aber die erste Aussage ist dabei wesentlich stärker vom Kontext abhängig als die zweite. Es gibt nur eine Person, die Aussage a) äußern kann, ohne ihren Inhalt zu verändern. Wenn mein Professor, meine Supermarktverkäuferin und mein Bruder die Aussage a) treffen, so wäre ihr Inhalt ein anderer (der Prof, die Verkäuferin oder mein Bruder würden sich selbst respektive als dumm bezeichnen); man könnte auch sagen, die Aussagen haben unterschiedliche Wahrheitsbedingungen. Wenn jedoch die erwähnten drei Personen Satz b) äußern, so ändert sich an seinem Inhalt nicht das geringste. Der Inhalt von Aussage a) ist also streng kontextabhängig.
Was aber geschieht mit dem Inhalt von Aussage b)?
Könnten wir behaupten, dieser Inhalt sei unabhängig vom Kontext und allein durch die Bedeutung der Wörter semantisch definiert? Wenn dies so wäre, müsste b) in allen möglichen Welten den gleichen Wahrheitsbedingungen unterliegen. Nun können wir uns aber problemlos vorstellen, dass eine Person P, die den Ausdruck „dumm“ missversteht (beispielsweise jemand, dessen Muttersprache nicht deutsch ist, und der irrtümlich gelernt hat, „dumm“ stehe für die Farbe grün) der Aussage b) vehement widersprechen würde. „Nein, Theresa ist nicht dumm! Sie ist doch kein Alien!“
Auf dieses Dilemma hat der Verfechter des Kontextualismus natürlich sofort eine Antwort parat:
„P und die von P angesprochenen Personen befinden sich nicht im gleichen Kontext! Fehler in der Übersetzung führen zu inhaltlichen Missverständnissen. Sobald sich der Kontext angeglichen hat, kann auch der Inhalt wieder korrekt übermittelt werden.“
Ist also das Verständnis der gleichen Sprache notwendige Bedingung für die Vermittlung von Inhalt? Beispiele aus dem Alltag widerlegen dies auf einleuchtende Weise: Das französische Mädchen, dass sich an die Schulter des amerikanischen Soldaten schmiegt, muss kein Wort Englisch verstehen, um das Interesse am gemeinsamen Beischlaf auszudrücken und in die Tat umzusetzen. In diesem Falle scheint also die Körpersprache als lingua franca völlig auszureichen.
Doch beschränken wir uns auf die Vermittlung von Inhalt durch sprachliche Äußerungen. Wie können wir Kontext definieren? Was sind die Voraussetzungen für das erfolgreiche Vermitteln sprachlichen Inhalts?
Als erste Bedingung können wir festhalten: (1) Ausreichendes Verständnis der gleichen Sprache.
Doch das ist bei weitem nicht genug. Stellen wir uns vor, P hätte mittlerweile genug Deutsch gelernt, um den Satz b) unmissverständlich nachvollziehen zu können, sagt aber: „Nein, Theresa ist nicht dumm! Sie hat zahlreiche Schachturniere gewonnen.“ Offenbar handelt es sich um eine andere Theresa Marx, die P zufällig auch zu seinen Bekannten zählt. Dann muss der Sprecher, der b) gegenüber P geäußert hat, den Kontext angleichen, und beispielsweise sagen: „Ich meine eine andere Theresa Marx, nämlich die, die sich verzweifelt bemüht, eine klare Abgrenzung zwischen Semantik und Pragmatik zu formulieren.“
Der gemeinsame Kontext wurde also wiederhergestellt durch eine Verdeutlichung des Objekts der Aussage b) durch Auflistung seiner Eigenschaften. Diese kann man so weit führen, wie es die jeweilige Situation verlangt, bis also (2) kein Zweifel mehr daran besteht, über welches Objekt in der Welt wir eine Aussage treffen.
Diese zweite Bedingung für die Vermittlung sprachlichen Inhalts stellt uns jedoch vor weitaus mehr Probleme als die erste.
Denn wie können wir das Objekt des Diskurses festlegen? Natürlich können wir gelegentlich auf nonverbale Mittel zurückgreifen (z.b. auf die Person zeigen), doch wenn sich diese Möglichkeit nicht bietet (die im Übrigen auch in eine indexikalische Aussage überführbar wäre, wie „Diese da ist dumm“), müssen wir wohl oder übel auf Sprache zurückgreifen, um den gemeinsamen Kontext wieder herzustellen.
Es scheint, als ob wir uns in einem Teufelskreis befänden: Damit Sprache verständlich ist, muss sie in einem Kontext stattfinden. Damit der Kontext jedoch der selbe ist, muss er zunächst durch Sprache erzeugt werden!
Vielleicht aber ist ja jede sprachliche Explikation durch nonverbale Kontexterzeugung ersetzbar? Dieser Einwand lässt sich leicht beiseite wischen. Auf wie viele Objekte in der Welt müsste ein Spanier zeigen, bevor Ihnen der Ausdruck „significado“ verständlich wäre? Ein Griff zum Wörterbuch hingegen würde sofort Erleuchtung bringen: „significado“ heißt „Bedeutung“. Natürlich könnte man auch (fast?) genauso gut durch Definitionen zum gemeinsamen Kontext kommen. Es steht aber außer Frage, dass manche Teile der Sprache -Fußnote1- nur durch andere Teile der Sprache (ein-)bedeutsam gemacht werden können.
Es kann argumentiert werden, dass doch aber jede einzelne Sprache S auf Konventionen beruht, das heißt, dass im und durch den gemeinsamen Kontext K gewisse linguistische Übereinkünfte getroffen werden, die es den Sprechern erlaubt, sich mit den gleichen Lautäußerungen auf die gleichen Objekte in der Welt zu beziehen. Dieser Prozess des Entstehens einer Sprache S kann beim Übergang einer Pidgin- in eine Kreolsprache beobachtet werden: Die Kinder der Pidgin-sprechenden Generation bauen die bestehende Grammatik und das entstandene Vokabular immer weiter aus bis zu einem hochkomplexen System, das es ihnen erlaubt, Inhalte auf die gleiche konkrete oder abstrakte Weise wieder zu geben, wie in jeder anderen S in L.
K ist also notwendige Bedingung für das Entstehen von S. Genausogut ist aber K' Bedingung für das Entstehen von S'. Dennoch (und trotz aller möglichen Missverständnisse) ist die Übersetzung von S in S' möglich und wird permanent praktiziert. Heißt dies etwa, dass ein Sprecher von S seinen Kontext K aufgeben muss, um S' in K' sprechen zu können? Das wäre logisch unmöglich, da S ja aus K entstanden ist, K also das Fundament für S bildet. Spricht besagter Sprecher also S' in K? Das wäre zwar möglich, da es ja nicht ausgeschlossen ist, dass S' ausgehend von S in K gelernt werden kann, würde aber zu nichts führen, da der Hörer S' durch K' gelernt hat, die beiden sich also in verschiedenen Kontexten unterhalten würden, was, wie wir gesehen haben, die Vermittlung von sprachlichem Inhalt nahezu unmöglich macht.
Wir müssen also schlussfolgern, dass der Sprecher von S gelernt hat, S' in K' zu sprechen, also er einen neuen Kontext erworben hat sozusagen als Ergänzung zu K, oder dass der Hörer in der Lage ist, S' auch in K zu verstehen. In jedem Fall müssten wir schlussfolgern:
P1: Die Übersetzung von S zu S' (und umgekehrt) ist möglich.
P2: S entsteht aus K, S' entsteht aus K' (S → K; S' → K')
C: Die Übersetzung von K zu K' (und umgekehrt) ist möglich.


Die erste Prämisse erhalten wir durch empirische Tatsachen, die zweite Prämisse aus dem Postulat, sprachliche Bedeutung sei ausschließlich durch den gemeinsamen Kontext möglich, und aus der Tatsache, dass die Entstehung einer Sprache einen gemeinsamen Kontext voraussetzt (Konvention). Und doch scheint uns die Konklusion etwas weit her geholt. Dies liegt an der Unterscheidung zwischen dem Kontext des Spracherwerbs und dem Kontext der späteren Sprachverwendung. Der Kontext K des Spracherwerbs der eigenen Sprache S kann niemals dem Kontext K' einer anderen Sprache S' angeglichen werden (allein schon weil bisher keine funktionierenden Zeitmaschinen konstruiert wurden).
Demnach muss es also einen bestimmten Kontext Kt geben, einen gemeinsamen Nenner in der Jetzt-Zeit, den beide Subjekte des Sprechakts teilen können (wenn sie nur alle Missverständnisse aus dem Weg räumen). Wir müssen also (2) noch um diesen Aspekt erweitern:
(2') Zum erfolgreichen Übermitteln sprachlichen Inhalts muss ein Kontext Kt gegeben sein, der es den Subjekten des Sprechakts erlaubt, sich auf das selbe Objekt in der Welt zu beziehen.
Wie aber ist es möglich, dass trotz des extrem individuellen Kontextes K ein (späterer) Kontext Kt mit einem Subjekt aus K' geteilt werden kann?
Offenbar ist ein beliebiger Kt aus K ableitbar.
Das erscheint nun etwas absurd – wie sollte beispielsweise der Kt einer Diskussion über Teleosemantik abgeleitet werden aus dem K des Spracherwerbs in einem Odenwälder Bauerndorf? Die Antwort liegt auf der Hand. K legt die Konventionen fest für S; und S wiederum ermöglicht die Herstellung eines beliebigen Kt!
Und ebenso gut ermöglicht K' den Erwerb von S', welche es wiederum ermöglicht, Aussagen in demselben Kt zu treffen. Kt lässt also den Rückschluss zu auf einen beliebigen K (K', K'',...). Ohne dass jemals ein K vorhanden gewesen wäre, hätte es auch keinen Kt geben können.
Kt → S → K v K' v K'' v...
In Worten: Die Tatsache, dass es einen gemeinsamen temporären Kontext Kt gibt, impliziert die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache S, die sich aber wiederum auf verschiedene Kontexte des Spracherwerbs zurückführen lässt. Kt wäre also undenkbar ohne S! (Soweit wir uns weiterhin auf rein sprachliche Äußerungen beziehen.)

Fußnote 1: Ich beziehe mich hier nicht auf eine beliebige konventionale Sprache S, sondern auf das linguistische Phänomen L selbst (S ist ein Teil von L; innerhalb L's kann S in S' übersetzt werden).

Fortsetzung folgt.